Die Tanzcompagnie Konzert Theater Bern brilliert in den beiden Stücken der Tanzpreis-Gewinner 2017. Die Sichten überzeugen im ersten Fall wenig. Im zweiten dagegen sehr.
An dieser Aufgabe könnte man sich den Kopf zerbrechen wie an einer mathematischen Gleichung mit zu vielen Variablen: Wie kreiert man mit einem Dutzend Bühnentänzern ein Stück, in dem sich alles um Albert Einstein dreht? Geht das überhaupt ohne Worte? Und wen soll das Resultat interessieren? Mit solchen Fragen haben sich die beiden Gewinner des Berner Tanzpreises, der ein Förderpreis für junge Choreografen ist, auseinandergesetzt – mit unterschiedlichen Resultaten.
Das belgische Choreografenduo Sara Olmo & Victor Launay fokussiert auf einen aufwühlenden Moment in Einsteins Biografie. Der Sohn jüdischer Eltern entscheidet sich 1933, als in Deutschland die Nazis die Macht ergreifen, in die USA zu emigrieren. Der Ort, wo Menschen ankommen und abreisen, ist also gut gewählt. Er verweist auf die Diskrepanz zwischen der friedlich-entspannten Abendstimmung an einer idyllischen Promenade, wo sich junge Menschen in der Dämmerung begegnen und beim Tanzen vergnügen. Leider verliert die beklemmende Doppelbödigkeit in der tänzerischen Umsetzung dann aber an Brisanz, weil Olmo und Launay sich in der Leichtigkeit des Seins verlieren (Bühne: Till Kuhnert).
Beschwingt treibt der Sinti-Swing des Titi-Winterstein-Quintetts die Tanzpaare an. Ihre Bewegungen sind wunderbar fliessend. Die Frauen und Männer tragen Alltagskostüme in erdigen Tönen (Catherine Voeffray), das Dämmerlicht hält die Gemeinschaft zusammen, zudem ein Velofahrer, der seine Runden um die Gruppe dreht. Alles passt wunderschön ins Postkartenbild, fast zu schön. Man fühlt sich zurückversetzt in die 1930er-Jahre.
Wie dann die wehmütigen Klänge ihr Öl ins Beziehungsfeuer der Geschlechter giessen, wird alles schneller, gewagter. Frauen und Männer heben sich hoch, schleifen sich, drehen sich akrobatisch, fallen sich zu Füssen und muntern sich zu Mutproben auf: zu halsbrecherischen Überschlägen, freihändigen Rädern – das ist atemraubend. Aber auch etwas beliebig. Genauso gut könnte das irgendwo stattfinden, wo getanzt wird.
Daran ändert sich auch nichts, als man plötzlich ein Schiffshorn vernimmt. Ein Signal aus einer anderen Welt, die Zeit scheint plötzlich langsamer zu laufen, die Tanzenden verharren in Slow Motion. Wenig überraschend, dass der Titel dieses Stücks «C’est relative» lautet und auch Einstein, der Protagonist, auftaucht. Er strudelt als Aussenseiter ins Rampenlicht. Als Sonderling, der zögert, leidet, zweifelt. Das Chaos in Einsteins Kopf drückt bis in das Abbild seines Schrittwerks durch. Und am Horizont über dem Wasser, dort, wo die Ferne aufhört und die Sehnsucht beginnt, leuchtet ein schmaler Silberstreifen.
«Tänzer sind Athleten Gottes», sagte Einstein. Und auch dies: «We are the dancers, we create the dreams.» Was er damit meinte? Zum Beispiel das, was der Taiwaner Po-Cheng Tsai im zweiten Stück des Abends kongenial auf die Bühne bringt (Porträt in der «Berner Woche» vom 3. Mai).
«Inception» ist ein mitreissendes Tanzstück, in dem die grosse Form ebenso überzeugt wie die überraschenden Details. Man blickt in eine Denkwerkstatt, in der die Menschen als Geistesblitze umherfliegen. Die dreidimensionale Partitur wird zur Bewegungsmusik, die ihre optischen Reize dem Raum wie ein Tattoo einbrennt. Hier fächeln Finger wie Kolibriflügel durch die erhitzte Luft. Dort verbiegt sich ein Torso rückwärts, als wären die Knochen aus Gummi. Dazwischen rasend schnelle Pirouetten, messerscharfe Stürze, Flugrollen, Hechtsprünge.
Das alles passiert organisch aus einem Fluss. Und die disparate Tonspur (mit Werken von Gabriel Prokofiev, Mozart oder Loscil & Les Tambours du Bronx) hält die Tableaus zusammen. Bevor die Maschinerie aus Bewegungssträngen implodiert, schnürt der Choreograf Po-Cheng Tsai sie zu einem Gedanken. Wie die Tanzenden ihre Individualität aufkünden, in helle Trenchcoats schlüpfen und sich in eine stampfende Phalanx einreihen, das kann man politisch lesen. Es ist aber auch ein Bild für die Konzentration, wenn man sich für eine Idee aus dem Meer der Möglichkeiten entscheidet, jenen ersten Schritt, der einen kreativen Kopf unter Umständen vom Genie unterscheidet.
Deshalb also macht Tanzen intelligent, wie Neurologen herausgefunden haben: Je beweglicher und zahlreicher die Nervenbahnen im Gehirn sind, desto beweglicher und grösser sind unsere mentalen Möglichkeiten. Die Mobilität geistiger Prozesse ist ein Mass für die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, zu abstrahieren, Analogien zu schaffen oder um die Ecke zu denken – wie Tsai in seinem Stück. Die Tanzcompagnie Konzert Theater Bern bewältigt die Herausforderung mit Bravour
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